Foto: Belinda Helmert, Brügge, Minnewater (See der Liebe). Früher glaubten die Menschen, dass hier Wassernymphen („minnen“ auf Niederlandisch) leben, daher der Name des Sees. (https://www.visitbruges.be/de/minnewater)
Brügge war einst eine der reichsten Städte, häufig mit Venedig in einem Atemzug genannt. Wie die Lagunenstadt Venesia La Serenissima wurde sie ein Opfer der modernen Schiffahrt. Zwölf Kilometer vom Meer entfernt waren zwölf zu viel, zudem versandete der Kanal und die Schiffe hatten immer mehr Tiefgang. Doch die Zeit der Tristesse, beschrieben von Rilke, Zweig und Georges Rodenbach (La mort de Bruges, 1898), Maeterlincks früh verstorbener Jugendfreund, ist vorbei. Die Stadt an der Reie, der früher die Stadt durchfloss, ist nicht mehr ein Schatten ihrer selbst, sondern lichtdurchflutet und farbenfroh.
Das tote Brügge
Auch wenn ihn nur noch Spezialisten kennen, der Roman „La mort de Bruge“ gilt als Meilenstein, Schlüssel- und Literatenroman, denn er begeisterte Rilke, Zweig und viele andere Symbolisten. Georges Rodenbach gehörte zum Typus der »avertis«, jener »Kinder des Todes«, die sich wie bei uns Novalis vom Tod angezogen fühlten. Seine Haltung entsprach der Schnitzlers im Wiener Sezionsstil, mir raffinierter fin-de-siècle-Psychologie. „Die neubelgische Literatur besitzt in ihm einen ihrer markantesten Vertreter, dem die Synthese deutscher Innerlichkeit und gallischer Formenschönheit in seltener Vollendung gelang “ schrieb Friedrich von Oppeln-Bronikowski. (https://www.projekt-gutenberg.org/rodenbac/totebrue/totebrue.html)
Der Roman folgt in der Haupthandlung einem Witwer, dem Brügge zum äußeren Spiegel seines traurigen Seelenzustandes wird. Er verliebt sich unversehend in eine Frau, die der seinen aufs Haar zu gleichen scheint und liebt im Grunde nur sie, nicht die reale Person, die Schauspielerin Jane. Nicht nur ihr Haar ist gefärbt, ihr Wesen ist ganz und gar nicht das Abbild der so innig geliebten Verstorbenen. Es kommt zur Katastrophe, der Witwer erwürgt die Geliebte in einer Anwandlung aus Schuldgefühl, Zorn und Enttäuschung. Der letzte Satz im fünfzehnen, dem Roman abschließenden, Kapitel lautet: „Und Hugo sprach immerfort vor sich hin: »Tot, tot… Tote Stadt…« Er sagte es mechanisch, mit markloser Stimme, und versuchte seine Worte mit dem Schlage der letzten Glocken in Einklang zu setzen, die matt und langsam nachhinkten, wie alte, erschöpfte Weiblein, und ihre Erzblumen müde über die Stadt – oder über ein Grab – aussäten.“ (https://www.projekt-gutenberg.org/rodenbac/totebrue/chap016.html)
Tragisch daran ist (heute erklärungsbedürftig): Der verzweifelte Witwer Hugo versagt sich sowohl den ersehnten Freitod als auch eine Neuvermählung aufgrund seiner strengen Kathololizismus, weil er fürchtet, aufgrund einer Sünde in die Hölle zu gelangen und damit die Vereinigung mit seiner geliebte, ja verehrten Ehefrau aufs Spiel zu setzen. Aller Anstrengung zum Trotz lässt er sich täuschen und gibt sich, auch aus Verzweiflung über die unendliche Todeslust, noch einmal dem Leben, dem Eros hin. Thanatos kann das nicht zulassen und so holt ihn die Realität ein, ausgerechnet als Jane, die falsche Braut, sich in die Kleidung der Verstorbenen hüllt: „Hugo hatte sich in tiefem Schmerze von Jane abgewandt; er preßte seine brennende Stirn gegen die Scheiben, als wollte er seinen Schmerz an ihrer Frische kühlen. … Sie hatte immer noch das Haar um den Hals geschlungen und wehrte sich, wollte es nicht hergeben und schimpfte jetzt wütend, denn die Umklammerung seiner Finger tat ihr weh.“
Am Ende erdrosselt der Gepeinigte das profane Abbild seiner Sehnsucht. Die gefall- wie geldsüchtige Schauspielerin stirbt, weil sie das Mysterium nicht errät, weil sie nicht einmal ahnt, dass es eine andere Welt gibt, in der unter Strafe der Heiligtumsschändung unantastbar bleibt. Brügge, so könnte man pointieren, wandelt sich von einer Kaufmannsstadt in eine spirituelle Hochburg. Rodenbach, ein Mitschüler bzw. lebenslanger Freund Verhaerens und später auch Maeterlincks personifiziert diese Amalgamierung zwischen Poesie und Religion, wie sie besonders der belgischen Kunst (hier die wallonische) zu Eigen ist.
Rilke – Quai du Rosaire
2004 tagte die Rilke Gesellschaft u.a. in Brügge eingedenk des Besuchs des Dichters ein Jahrhundert davor. 1906 hat Rilke einige Wochen in Flandern verbracht, von Ende Juli bis zum 20. August, wo er auf seine Noch-Ehefrau Clara Westhoff samt Tochter Ruth trifft. „Vor allem brauchte er die in einigen Lebensabschnitten vollkommen dominierende Einsamkeit, die selbst zu einer Art asketischer Welt- und Menschenflucht geführt hatte“ schreibt David Schmidhofer (https://www.nl-de.com/images/2002.07.01,%20Rilke%20en%20Vlaanderen.pdf). Gott, wo geht die Einsamkeit der Erde hin, schriebt Rilke und fügt in einem Brief hinzu „la trop vivante-à cause d’Ostende“ – die zu Lebendige im Angesicht von Ostende. Brügge („brugj“, zu Deutsch Anlegesteg) zählte seinerzeit nicht einmal 50 000 Einwohner – weit unter der Hälfte der heutigen Population.
Die Gassen haben einen sachten Gang
(wie manchmal Menschen gehen im Genesen
nachdenkend: was ist früher hier gewesen?)
und die an Plätze kommen, warten lang
auf eine andre, die mit einem Schritt
über das abendklare Wasser tritt,
darin, je mehr sich rings die Dinge mildern,
die eingehängte Welt von Spiegelbildern
so wirklich wird wie diese Dinge nie.
Es ist Zweig, der Rilke an Verhaeren und die belgische, speziell Flandern heranführt und für die Einbettung es zeilensprungs (Enjambement) gewinnt , die sich im Gedicht Brügge – Quai de Rosaire bereits ankündigt. Schmale Gassen und Wasser sind die hervorstechenden urbanen Merkmale. Durch seine günstige Lage und die Verbindung zum Meer entwickelte sich Brügge bereits im frühen Mittelalter zu einer betriebsamen internationalen Handelsstadt mit Hafen. Gleichzeitig wuchs die befestigte Siedlung dank der Präsenz der flämischen Grafen, die von Brügge aus die Grafschaft Flandern verwalteten, zu einem mächtigen politischen Bollwerk heran. Doch auf das Hoch folgte der tiefe Fall und gerade Rilke zeigte sich empfänglich für den genius loci, die Spiegelung des Inneren im Außen. Er schreibt: „Flandern – mit diesem Namen steigen die Kontraste herauf, deren Äußerstes
in dem Bilde Brügge sich zu begegnen scheint…“
Verging nicht diese Stadt? Nun siehst du, wie
(nach einem unbegreiflichen Gesetz)
sie wach und deutlich wird im Umgestellten,
als wäre dort das Leben nicht so selten;
dort hängen jetzt die Gärten groß und gelten,
dort dreht sich plötzlich hinter schnell erhellten
Fenstern der Tanz in den Estaminets.
Und oben blieb? — Die Stille nur, ich glaube,
und kostet langsam und von nichts gedrängt
Beere um Beere aus der süßen Traube
des Glockenspiels, das in den Himmeln hängt.
So die dritte und vierte Strophe aus Rilke, Brügge, Quai de Rosaire. Zur Erklärung: ein estaminet ist eine kleine Bar, typisch für Belgien und die Picardie.
Zweig: Brügge
Das Gedicht „Brügge“ stammt aus der Feder von Stefan Zweig, der bekanntlich seine poetische Karriere als Lyriker begann und sein Leben lang diese Gattung als die schwierigste ansah, weshalb seine Verehrung auch Verhaeren (den er übersetze und so edem deutschen Publikum nahebrachte) Hugo von Hofmannsthal und Rilke galt, den er förderte. Auch Zweig kommt in seinem vierteiligen Gedicht auf die von Rilke als „Maßlosigkeit der Türme“ bezeichnete Architektur zu sprechen. Das goldene Zeitalter war Vergangenheit und es folgten lange Jahrhunderte mit Kriegen und Machtwechseln. Nach der Unabhängigkeit Belgiens (1830) wurde Brügge Mitte des 19. Jahrhunderts eine arme, heruntergekommene Stadt. So beginnt sein Gedicht Brügge:
I.
Bei Tag ist alles hier Gewöhnlichkeit.
Die Straße klingt vom Holzschuhtritt der Bauern,
Vom Lärm der Weiber, die am Markte kauern.
Allein im milden Glanz der Abendzeit
Erwacht der alten Häuser leises Trauern.
Die Glocke mahnt … Und in den dunkeln Mauern
Erstehn die Träume der Vergangenheit.
Zweig unterhielt gute Beziehungen zu dem von ihm bewunderten Emil Verhaeren und zu Frans Masereel; er besuchte Flandern vor dem Ausbruch des Weltkrieges zwei Mal; die Beziehung kühlte danach etwas ab und Zweigs Brügge-Bild ist zweifellos anfänglich idealisiert durch seine Liebe zu den genannten Künstlern, wenngleich diese wallonischer Herkunft sind. Ihm sticht der Gegensatz zm lebensfrohen Oostende, dem benachbarten Küstenoft, das zur Zeit der Belle Epoque aufblüht, ins Auge. Ein Gegensatz, der sich heute wieder verkehrt zu haben scheint. Himmelfahrt mit Meeresrauschen …
II.
Hier sind die Häuser wie alte Paläste,
Der Abend hüllt sie in traurigen Flor,
Die Straßen sind leer wie nach einem Feste,
Wenn sich der Schwarm froh lärmender Gäste
Schon fern in die schweigende Nacht verlor.
Die prunkenden Tore mit rostigen Klinken
Sind längst nicht mehr zum Empfang bereit,
Verstaubt und verwittert die Kirchturmzinken,
Die in den Nebel träumend versinken
Wie in das Meer ihrer Traurigkeit.
Und in den Nischen an dunkelnden Wänden,
Da lehnen Gestalten aus bröckelndem Stein,
Und reglos, in heimlichen Worte spenden
Sprechen sie leise die alten Legenden
In die tiefe Schwermut der Straßen hinein …
„TraumA“ mit sperriger Großschreibung am Wortende, die dritte Ausgabe der Brügge Triennale für zeitgenössische Skulptur im öffentlichen Raum, möchte zu einem Stadtspaziergang auf der Grenzlinie zwischen „Traum und Albtraum, Paradies und Hölle“ einladen. Dreizehn Künstler sind mit ihren Interventionen dabei, in Kirchen, auf Plätzen und an Grachten. (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/belgiens-skulpturen-triennalen-trauma-und-beaufort-17419417.html)
III.
Die weißen Wolken fremder Lande,
Die nie ein Turm erklommen hat,
Sie scheinen nah im Spiegelrande
Und eingestickt dem schwarzen Bande
Der stillen Wasser dieser Stadt.
Wie Mädchen, die zur Messe schreiten,
So fromm und fürchtig ist ihr Gehn.
Man sehnt sich sehr, sie zu begleiten
Und über Trauer alter Zeiten
Mit ihnen sinnend hinzuwehn …
VI.
Lind weht der Abendfriede in die stille Stadt,
Der Sonne goldnes Blut verströmt in den Kanälen,
Und eine Sehnsucht, die nicht Weg und Worte hat,
Beginnt nun von den grauen Türmen zu erzählen.
Die alten Glocken singen dumpf und wunderbar
Von Tagen, da ihr Jubelruf das Land umspannte,
Des Lebens Glanz tief unten in den Straßen war
Und fackelfroh das Wimpelspiel des Hafens brannte,
Von reichen Tagen wundersam und längst verglüht
Und die wie erster Kindertraum so fern geworden.
Das Ave schweigt … Und langsam stirbt der Glocken Lied
Und zittert aus in leise bebenden Akkorden.
Die letzten Töne nimmt ein lauer Abendwind,
Und einsam irrt der Nachhall in die toten Gassen,
Die alle schweigsam und ganz schmerz verschüchtert sind,
Ein blindes Kind, das jäh die Führerhand verlassen. –
Durchs stille Wasser streift ein wildes Schwanenpaar,
Und leise raunt die Flut, die Schwingen sacht erschauert,
Von einer schönen Frau, die Königin einst war
Und nun im dunklen Nonnenkleide einsam trauert …
Letzter Teil aus Stefan Zweig, Fahrten, Brügge (https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/weltgest/chap010.html). Heute profitiert Brügge von dem jahrhundertelangen Stillstand, da der mittelalterliche Stadtkern unverbaut erhalten geblieben ist und die Grundlage für den Besucherstrom bildet.
Maeterlinck: Als ihr Geliebter schied
Maurice Maeterlinck, dessen Buch „Weisheit und Schicksal“ (1912) mit Arabesken verziert ist, schreibt:
„Man müsste sagen können, dass den Menschen nur das zustösst, was sie wollen. Wir haben freilich nur geringen Einfluss auf eine gewisse Anzahl von äusseren Ereignissen; aber wir haben eine allmächtige Einwirkung auf das, was aus diesen Ereignissen in uns selbst wird, das heisst, auf das geistige Etwas, das den lichten und unsterblichen Teil jedes Ereignisses bildet.“ (https://www.projekt-gutenberg.org/maeterli/weisheit/chap001.html)
In Brügge entstand 1910 folgendes, gleichfalls Todesnähe suchendes, Gedicht von ihm, nahezu zeitgleich mit dem von Zweig:
Als ihr Geliebter schied,
(Ich hörte die Türe gehn),
Als ihr Geliebter schied,
Da hab ich sie weinen gesehn.
Doch als er wieder kam,
(Ich hörte des Lichtes Schein),
Doch als er wieder kam,
War ein anderer daheim.
Und ich sah den Tod,
(Mich streifte sein Hauch),
Und ich sah den Tod,
Der erwartet ihn auch.
Zum Ende des 15. Jahrhunderts versandete der Zwin; Brügge war damit von der Nordsee abgeschnitten. Der burgundische Hof zog sich aus der Stadt zurück und Maximilian beschränkte die Rechte der Stadt. Diese musste ihre führende Position in Flandern abgeben an Antwerpen, das heute fast fünf mal so viele Einwohner zählt als Brügge. (https://de.wikipedia.org/wiki/Bruegge)
Hamburg ist die brückenreichste Stadt Europas mit 2500 ihrer Art, weit vor Venedig mit nur vierhundert. Quantität ist aber nicht alles. Wien und Amsterdam liegen noch vor der Perle Venetiens. Von Brücke zu Brücke in Brügge – ein Gassenhauer für das Venedig des Nordens. Aber neben der horizontalen Schönheit bietet die Stadt, deren Geschichte mit dem Herzogtum Burgund verbunden ist, vor allem vertikale Ausblicke – allen voran des 83 Meter hohen (366 Stufen) Belfort von Brügge aus dem 13. Jahrhundert – heute ein Weltkulturerbe der Unesco.
Brügge ist auch die Stadt der Pferde und Droschken, von denen zahlreiche über das Kopfsteinpflaster der lang gezogenen und dennoch verwinkelten Innenstadt trotten. Standardmäßig fahren die Kutschen nur tagsüber, aber in der Hochsaison und / oder bei schönem Wetter fahren sie auch abends. Bei extremer Hitze (ab 30 °C) werden keine Kutschfahrten veranstaltet, um das Wohlbefinden der Pferde zu gewährleisten.Preis sechzig Euro – in Brügge hat man das Gefühl, eine Zeitreise ins hanseatische Spätmittelalter zu durchleben. Zahlreiche Gassen, Plätze, Höfe, Brücken und Grachten laden zum Entdecken und Verweilen ein. Nicht zuletzt wegen der Präsenz des Wassers und des einzigartigen historischen Stadtbildes. Auf dem Rücken der Pferde liegt das Glück dieser Erde…
Stefan Zweigs Kurzgeschichte Brügge
Brügges Aushängeschild ist der Groote Markt mit seinen bunt bemalten Häusern, die viele Cafés und Restaurants beherbergen. Hier warten die Droschken auf Gäste, hier nehmen die Touristen Erinnerungsfotos vor der beeindruckenden Kulisse auf. Auf der anderen Seite erhebt sich der 88 Meter hohe Belfried, ein Turm aus flandrischer Zeit, der den Marktplatz beherrscht.Stefan Zweigs Kurgeschichte beginnt:
„Es ist schwer, des Abends durch die dunkelnden engen Straßen dieser träumerischen Stadt zu gehen, ohne sich in leise Melancholie zu verlieren, in jene süße Wehmut der letzten herbstlichen Tage, die nicht mehr die lauten Feste der Früchte haben, sondern nur das stille Schauspiel willigen Hinsterbens und verlöschender Kraft.“ (https://gedichte.xbib.de/kurzgeschichte_Zweig%2C+Stefan.htm)
„Getragen von der steten Welle frommer Abendglockenspiele flutet man mählich hinein in dieses uferlose Meer rätselhafter Erinnerungen, die hier an jeder Türe und jedem verwitterten Walle aufrauschen. Lässig pilgert man so, bis man sinnend plötzlich die ganze Größe eines Schauspiels fühlt, darin der eigene sorgsam gedämpfte Schritt das Wirkende und Lebendige scheint, während die großen Gewalten stumm als finstere Kulissen stehen. Und keine Stadt gibt es wohl, die die Tragik des Todes und des noch mehr Furchtbaren, des Sterbens, mit so zwingender Kraft in ein Symbol gepreßt hat, wie Brügge.“
„Dies fühlt man so ganz in den Halbklöstern, den Beguinagen, dahin viele alte Leute sterben gehen, denn was einen die herben Konturen der Straßen am Abend nur ahnen lassen, das zeichnet sich hier in müden, stumpfen, vom Widerglanz des Lebens nur matt erhellten Blicken: daß es ein Leben ohne Hoffnung und Sicht in die Ferne gibt, ganz versunken in gleichgültiges Zurückstarren zur Vergangenheit. Und unvergeßlich ist die Art dieser Menschen, die das matte Blühen der kleinen Klostergärtchen unbewegt überschauen, ohne sich fragend einem Fremden zuzuwenden. Und gleich wunderbar ist das Dämmerbild der untätigen uralten Straßen.“
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Brügge. Es ist schwer, des Abends durch die dunkelnden engen Straßen dieser träumerischen Stadt zu gehen, ohne sich in leise Melancholie zu verlieren, in jene süße Wehmut der letzten herbstlichen Tage, die nicht mehr die lauten Feste der Früchte haben, sondern nur das stille Schauspiel willigen Hinsterbens und verlöschender Kraft. Getragen von der steten Welle frommer Abendglockenspiele flutet man mählich hinein in dieses uferlose Meer rätselhafter Erinnerungen, die hier an jeder Türe und jedem verwitterten Walle aufrauschen. Lässig pilgert man so, bis man sinnend plötzlich die ganze Größe eines Schauspiels fühlt, darin der eigene sorgsam gedämpfte Schritt das Wirkende und Lebendige scheint, während die großen Gewalten stumm als finstere Kulissen stehen. Und keine Stadt gibt es wohl, die die Tragik des Todes und des noch mehr Furchtbaren, des Sterbens, mit so zwingender Kraft in ein Symbol gepreßt hat, wie Brügge. Dies fühlt man so ganz in den Halbklöstern, den Beguinagen, dahin viele alte Leute sterben gehen, denn was einen die herben Konturen der Straßen am Abend nur ahnen lassen, das zeichnet sich hier in müden, stumpfen, vom Widerglanz des Lebens nur matt erhellten Blicken: daß es ein Leben ohne Hoffnung und Sicht in die Ferne gibt, ganz versunken in gleichgültiges Zurückstarren zur Vergangenheit. Und unvergeßlich ist die Art dieser Menschen, die das matte Blühen der kleinen Klostergärtchen unbewegt überschauen, ohne sich fragend einem Fremden zuzuwenden. Und gleich wunderbar ist das Dämmerbild der untätigen uralten Straßen. „Was aber seltsam ist: diese Stille ist hier nicht nur dem Abend gegeben, der sie mit seinen vielen Träumen und sehnsüchtigen Erinnerungen durchflicht, sondern unablässig scheint ein grauer Schleier über diese alten Giebeldächer gebreitet zu sein, darin sich alles Laute und Derbe verfängt, eine Sordine, die Lärm zu Raunen, Jubel zu Lächeln und den Schrei zum Seufzer dämpft. Wohl ist das Leben nicht ganz erloschen in der Mittagshelle der Straßen: Karren und Wagen stolpern über das Pflaster, Menschen mühen sich um das tägliche Brot, Cafés, Restaurants und Estaminets erweisen sogar sehr zahlreich das Bemühen nach irdischem Wohlergehen, aber dennoch liegt kein Lächeln über Stadt und Menschen.“ |
„Nirgends diese dörflerische Fröhlichkeit der flandrischen Städte, der klappernde Holzschuhtanz singender Kinderscharen hinter dem aufspielenden Leierkasten, nirgends das bunte Flackern prahlerischer Gewandung. Und immer diese Dämpfung der Laute. Ist man das kühle und dunkle Treppengewinde des Beffrois, der breitschultrig und nackensteif wie Roland der Riese am Hallenplatze steht, hinaufgestiegen, leise beklommen durch das dumpfe Dunkel, und sieht man dann in freudigem Erschrecken das in leuchtenden Farben ergossene Licht, so fehlt doch in dem hellen Umkreis des tiefruhenden Treibens die Stimme. Von der weitgebreiteten Stadt und ihrer holden Umkränzung weht nur ein summendes Brausen empor, undeutlich und zauberisch wie die Vinetaglocken über dem sonntäglichen Meere. Und so scheint dieses bunte Gewimmel ziegelroter Dächer, zackiger Giebel und weißglitzernder Fensterborde nichts als ein Spielzeug, von lässiger Hand ins grüne Gelände geschüttet. Lieblich und leblos mutet dieses Schachtelwerk getürmter Häuser und runder Klöster an, geschickt untermischt mit kleinen Bezirken grünüppiger Gärten und breiter Alleen, die allmählich hineinführen ins blühende flandrische Land, darin schon die großen Mühlen – der holländischen Landschaft unentbehrliches Requisit – mit wirbelnden Flügeln stehen. Aber auch von dieser Höhe, die das Spielerische und Ziervolle der Stadt hervorhebt, kann man nicht die tragische Gebärde übersehen, die einen die stumme Traurigkeit der Straßen verstehen läßt.“
„Das ist jener sehnsüchtig zum fernen Meere ausgereckte Arm, der breite Kanal, mit dem der versandete Hafen die segenbringende Flut zu erreichen strebt. Die tragische Geschichte Brügges fällt einem ein: die blühende Jugend, da alle Reeder hier ihre Kontore hatten, Hunderte bewimpelte Schiffe den Hafen durchsegelten, da Könige demütig mit den Schöffen verhandelten und Königinnen, heimlichen Neides voll, die prunkvollen Gewandungen der Bürgerinnen bestaunten. Und dann der langsame Niedergang: die langjährigen Kriege, Seuchen und Streitigkeiten und schließlich das Meer, mit dem alles Glück langsam von den Mauern zurückwich. Nun liegt es weit, an klaren Tagen ein silberner Streif am Horizont. Und in der Stadt sind die Farben verblaßt; nur noch die Altardecken haben die purpurne Glut schwerer Brokate bewahrt, sonst ist der Nonnen Kleidung auch die der Stadt geworden, in der das Gelärme des Hafens und das Getöse menschenvoller Tavernen für immer verstummt ist. Jählings versteht man die abwehrende Gebärde, mit der sich diese Stadt einsam mit ihrer älteren Schwester Ypern abseits von allen andern stellte, die im Zeichen neuer Zeit Gewalt und Ehrengaben der Kultur an sich gerissen hatten. Während Antwerpen, Hamburg, Brüssel und die andern Schwesterstädte in kriegerischen Mühen die Fahne des Lebens entfalteten, hat sich Brügge immer fester eingehüllt in die dunkle Kutte seiner Einsamkeit und umgürtet mit dem alten Bande seiner Mauern. Und Jahrhunderte so finster und unbeweglich stehend, ganz der Vergangenheit gehörend, hat es jene majestätische und finstere Attitüde eines mönchischen Riesen gewonnen, die zugleich Wehmut erweckt und ungemeine Ehrfurcht gebietet, und die das Wunderbare und Verlockende dieser Stadt bedeutet.“
Der Rest: https://gedichte.xbib.de/kurzgeschichte_Zweig%2C+Stefan.htm
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