
Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Breitenweg, Grüne Zitadelle, Hundertwassers letztes Projekt. Goldene Kugeln auf der Dachterasse. Seneca war Stoiker, benannt nach stoá poikílē die bunten Säulen bzw. die bunten Vorhallen. Nietzsche spricht im Zarathustra von der „Stadt, die bunte Kuh heißt“.
Selbst ist des Glückes Schmied
In den Nienburger Wallanlagen direkt am Weserufer steht ein Denkmal: „Die Trauernde“. Errichtet 1927 zum Gedenken der gefallenen „Kriegshelden“ und deren heroischen Opfer für das Vaterland . Aus der Frage wofür ist inzwischen ein warum entwachsen. Auf der 2020 erneuerten Inschrift des Mahnmals steht, dass man heute eher an die Kriegsverbrechen aus Profitgier hinterfragen muss. Wie leicht sich Menschen berechtigt fühlen, andere zu töten und dies als Verteidigung tarnen, ist spätestens seit Neros inszenierten Brand und Senecas Freitod bekannt, da sich der Dichter und Philosoph nicht vor seinen ideologischen (Rechtfertigungs-) Karren spannen ließ und sein stoisches Ideal des vernünftigen tugendhaften und selbstbestimmten Lebens nicht verriet. Die heutigen Neros liegen nicht mehr nur in Personen, sondern auch in der KI, denen immer mehr Menschen Vertrauen schenken und ihr eigenes Hirnleistung einstellen. Denkvermögen ist heute reduziert auf eigenes Profil und profitables Reüssieren. Geschichte wiederholt sich und wie das divide et impera Prinzip der alten Römer funktioniert konnte man in den letzten Jahren gut in Germania beobachten, das sich in der Antike als eine der wenigen Stammesverbände gegen die vordringenden Invasoren behaupten konnte. Was Seneca wohl seinem fast gleichaltrigen Zeitgenossen gesagt haben würde?
Glück und Unglück, Mut und Angst, Gelassenheit und Zorn liegen in uns selbst. Das Suchen von Sündenböcken ist daher zutiefst verachtenswert. Es liegt in unserer Hand, das Beste aus unserem Leben zu machen. Je mehr uns das gelingt, desto zufriedener sind wir. Umgekehrt gilt auch: wenn wir zürnen, geht es selten um das äußere Ereignis (den Auslöser), sondern sondern dem Groll und Schutt, der in uns selbst begraben liegt.
Glück (lat. Fortuna oder beata ) bedeutete in der römischen Welt nicht den Ausgang einer Sache, sondern eine auf Tugend basierende Grundeinstellung. Man(n) macht sein Glück bzw. (Fortes fortuna adiuvat) : “Den Tüchtigen hilft das Glück.“ (zitiert aus De beata, Über das Glück)

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Blick von der Dachterasse der Grünen Zitadelle von Hundertwasser auf Kloster Unser Lieben Frauen (heute Kunstmuseum) und Elbe. Erwähnung findet die Stadt erstmals unter Karl dem Großen. Die Römer okkupierten nie das Gebiet der Elbe.
„Unwissenheit ist der Grund der Angst“
So formuliert es Seneca in seinen legendären „Briefe an Lucilius“, besser bekannt als epistulae morales, die moralischen Briefe. Wir könnten daraus unsere Lehren ziehen, doch bis heute entwickelt der Mensch sich hauptsächlich technisch weiter, selten moralisch. Seneca war erklärter Vertreter der Republi (nicht dem Demokratie) und damit der Machtbegrenzung. Er misstraute Volkes Stimme ebenso wie den ehrgeizigen Machthabern, die sich häufig als Tyrannen gebärdeten. Die heutigen Strippenzieher kennen wir nicht, sie arbeiten im Verborgenen und bedienen sich der Politiker wie Puppen.
Wilde Rohheit hat ihren Ursprung immer nur in der Schwäche – ein weiteres Zitat Senecas aus De ira, Über den Zorn. Diese Weisheit gilt sowohl für das Individuum und ruft hier zur Selbstmäßigung und Gemütsruhe auf als auch für den Staat und damit die Regierenden, denen nicht blind zu folgen ist. Was das bedeutet, bei sich selbst zu bleiben, zu prüfen und für die Überzeugung einzustehen, ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Sie kostet Seneca auch schließlich das Leben: Philosophieren kann gefährlich sein, da sie nicht im akademischen Diskurs stattfindet, zumindest nicht ausschließlich, sondern nur im täglichen Handeln (carpe diem) gefunden werden kann.
Weil die Zeit flieht, besser rast, tempo fugit, ist der Mensch selten im Hier und Jetzt, sondern meist im Vergangenen oder im Zukünftigen. Er argumentiert, als wären diese wirklich und nicht nur möglich. Weil er so selten wirklich da ist (präsent) ist er so gut wie nie bei sich. Er ruht nicht, sondern kreist um seine eigene Mitte. Schwache Bürger, schwacher Staat, auch wenn der mit Pomp nach außen glänzt oder selbstherrlich auftritt. Sotizismus heißt vor allem, das Große und Ganze sehen und dies geht natürlich nur in der Kontemplation und Reflexion des Philosophen (und die sind wir alle, nicht nur die von Gewerbe).

Foto Belinda Helmert: Magdeburg Altstadt vom Dach der Grünen Zitadelle: links Alter Dom, rechts Bankgebäude Nord LB, Fassade aus brasilianischem Marmor. Hundertwasser stieß sich an den geraden Linien, die er als menschenverachtend empfand. https://www.ak-lsa.de/objekt/nord-lb-domviertel/
Leben muss man ein Leben lang lernen,
Eine nicht von Vernunft geleitete Seele leidet unter Lastern wie Gier und falscher Ehrgeiz. Diese fesseln die Seele und richten Schaden an, denn schlechtes Handeln verbreitet sich schneller als gute Taten, weil es leichter ist zu zerstören als aufzubauen. So beeinträchtigt das Laster unser Denkvermögen und mangelndes Urteilsvermögen führt unerbittlich zu frevelhaften Handeln. Seneca: “ Was kaum wünschenswert ist, wird umso heftiger angestrebt wird.“ (Aus De ira, Über den Zorn)
Seneca: „Wenn du zulässt, dass Dinge ihren Lauf nehmen, kannst du sie nicht mehr beherrschen.“ (Briefe an Luculius). Er rät, wir alle sollten ausgedehnte Spaziergänge unternehmen, damit unser Verstand von der frischen Luft und den tiefen Atemzügen erfrischt und genährt wird.. Dies erinnert an Nietzsche, dass nur beim Gehen im Freien auch freie Gedanken möglich sind. Fest steht: die wachsende Mobilität hat die Motilität, geistig wie physisch stark eingeschränkt. Die Menschen laufen weniger, sind geistig erstarrt, informieren sich nicht mehr im Leben, sondern über das Leben aus vorgefertigten und selten neutralen Nachrichten. Sie folgen aufbereiteten manipulierten Nachrichten und falschen Bildern, so dass in ihren Köpfen immer weniger Lebenserfahrung zu finden ist.
Auf diese setzte der Pragmatiker Seneca. Immer liegt die Wurzel des Übels, das wir im Außen verorten, in uns selbst. „Das höchste Gut ist die Harmonie der Seele mit sich selbst.“ (Briefe). Viele rechtfertigen ihre Passivität damit, dass man nichts tun kann oder so vieles schon erfolglos versucht wurde. Seneca aber sagt, nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer. Leben muss man ein Leben lang lernen und das nicht nur in der Schule oder im Studium, wobei in den letzten Jahrzehnten (Bildungskatastrophe) auch das fraglich und fragil geworden ist.

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Dachterasse Hundertwasser- Grüne Zitadelle, Blick auf die Türme des Magdeburger Doms. Die Terrasse ist teilweise zugänglich für die Bewohner und externe Besucher ( nur innerhalb einer Führung), teilweise abgesperrter Exklusivbereich des integrierten art-Hotels
Niemand irrt für sich allein
De vita beata , ein Werk aus der Spätzeit des bei Nero in Ungnade gefallenen Konsuls, ist in 28 Abschnitte (Kapitelchen) gegliedert. Die Argumente Senecas: Das ephimäre Glück entfernt sich durch übereiltes Handeln von innen ebenso wie durch raschen Wandel von Außen. Die richtige Ansicht der Dinge ermöglicht richtiges Handeln, beides ist Voraussetzung für dauerhaftes Glück. Niemand irrt für sich allein, in allem Falschen liegt Ursache und Grund.
Im Verständnis des Stoikers fällt Glück fällt dem Menschen nicht einfach (von Außen) zu, sondern ist Produkt innerer Arbeit an Einstellung und Haltung. Ganz im Gegensatz dazu der deutschen Ursprung des Wortes Glück, das mit Zufall oder Ausgang von etwas verbunden ist, welches man entweder gar nicht oder kaum zu beeinflussen vermag. Es ist erziehbar, bzw. von uns selbst erzeugt. Tugend ist daher sowohl Weg und Ziel, Arbeit und Lohn zugleich. Leider erwarten die Meisten, dass dieses Glück vom Himmel fällt. Sie denken auch, dass dieser geteilt sein müsse für jene, die er mit Sonne beschenkt und andere, denen er Wolken und Regen schickt.
Von falschen Vorstellungen wird man geheilt durch Absonderung (für sich Nachsinnen, vita contemplativa) Die Menge ist ein schlechter Ratgeber und für die Wahrheit, den Logos. Vergangenes ungeschehen zu machen ist so unmöglich wie Zukünftiges voraus zu sehen, daher liegt die Konzentration auf dem Jetzt (vita activa). Dem Schein (z.B. der Beredsamkeit) zu folgen ist schlecht, ein glückseliges Leben steht immer in Einklang mit Ruhe (Ausgleich) und Selbstdisziplin.– sie allein ermöglicht Freiheit.
Weil Freiheit von innen (Selbstbestimmung) nach außen geht (Pflichten) und nicht umgekehrt und Lust auch durch maßvollen Genuss entsteht, sind die meisten Menschen unfrei. Sinnliche Genüsse gewähren nur kurzes Glück, machen nicht frei und ermöglichen keine Harmonie. Zu den Lastern, vor denen Seneca warnt gehört auch Hass, Zorn, Feindseligkeit, Ärger. Davon scheinen besonders die Deutschen derzeit nahezu betrunken.

Foto Belinda Helmert: Magdeburgs geteilter Himmel über der Altstadt; abgesperrter Teil der Dachterasse der Grünen Zitatdelle, der nur für Gäste des Sky Art Hotels zugänglich ist. Mit über 240 000 Einwohnern ist Magdeburg die Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt. Der Wasserstand der Elbe, welche die Stadt von Süd nach Nord durchfließt schwankt derzeit zwischen 5,50 m und 45 cm wie haute und baisse an der Börse.
Tugend ist ein Tempel und liegt nicht im Bordell
Derzeit hat der neutrale Betrachter den Eindruck, die Hölle, das Bordell sind interessanter als der Gottesdienst, der Tempel. Sakrale Gebäude dienen meist nur noch dem Staunen an den Architekturleistungen unserer Vorfahren, die nahezu ohne technische Hilfsmittel auskommen mussten. Es scheint, als hätten die Menschen im Zeitalter ohne Metaphysik, dafür aber umso mehr Wissenschaft, die Orientierung verloren. Seneca gebraucht eine schönes Gleichnis: „Wenn man nicht weiß, welchen Hafen man ansteuert, ist kein Wind günstig.“ ( Briefe, 71)
Da den richtigen, den guten Weg zu beschreiten und den richtigen Kurs zu halten schwerer ist als sich einfach treiben zu lassen, gilt seine Einsicht auch bis heute. Wir halten für einen Gipfel, was nur eine Stufe ist und für selbstverständlich, was nur vorübergehend oder geliehenes Glück ist. Weil die größte Herrschaft immer die Selbstbeherrschung ist, gilt sie wenig im Lande der Ikonen, der Heroen und der ewigen narzisstischen Selbstlüge. Das sittliche Leben (mos majorum der republikanischen Tugenden), welches Seneca als glückseliges Leben rühmt, ist nicht sexy. Verführerische ist stets allen sichtbar, die Weisheit jedoch nur dem Inneren.
Daher begreifen wohl die wenigsten den tieferen Sinn einer lakonischen Einnordung: „Den größten Reichtum hat, wer arm an Begierden ist.“ (De vita beata). Selbst wenn es heißt, dass nicht alles Gold ist was glänzt, so glänzt es doch noch immer gut genug, um zu verführen. Weshalb die Menschen die Macht anbeten, die im Außen liegt und so viel Wert auf vergänglichen Wohlstand legen, nun, Seneca selbst war weder arm noch ein Kostverächter, wusste aber doch, sich von solchen Dingen nicht abhängig zu machen. Wir dagegen haben uns an einen status quo gewöhnt, den die letzten Generationen besaßen, nicht aber die Vorfahren vor dem Krieg für sich beanspruchen durften. Bereits Seneca warnt vor dem Luxus, denn er schwächt die Widerstandstkraft.

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, die goldenen Kugeln auf dem Dach des Hundertwasser Hauses. Der Name Magdeburg rührt von mächtiges Kastell
Eilen im Verweilen
Einen Besitz zu erstreben ist nicht das Übel, nur an ihm festhalten zu wollen, kommt diesem gleich. Neben der fehlenden Bescheidenheit und der Gewöhnung an den Überfluss schleicht sich der Gedanke ein, es wäre unser recht, zu besitzen und weil er uns zustünde, müsse er mit aller Kraft gegen andere und anderes behauptet werden. Eine solche Auffassung muss im römischen Reich erstaunen, da es auf Erfolg, Besitz, Behauptung aufgebaut ist. Doch im Kern geht es immer um das rechte Maß, welches Lust in Schmerz umschlagen lässt und Gewinn in Verlustangst.
Im 28. Brief rät Seneca Lucilius: „Du mußt deinen Seelenzustand verändern, nicht den Himmel. Erfolglos bleibt diese Unrast, andere ändern zu wollen.. Du fragst, warum dir die Flucht an andere Orte nicht hilft. Es ist, weil du mit dir fliehst. Die Last der Seele muß abgelegt werden: vorher wird dir nicht irgendein Ort gefallen.“
Seneca fasst die dauerhafte Gemütsruhe als größtes Glück gepaart mit dem Vertrauen auf sich selbst. Im 44. Brief an Lucilius findet sich die Quintessenz seines Denkens, dem Streben nach der inneren Mitte, die zugleich die Harmonie mit dem Logos, der Weltganzen, ermöglicht

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Grüne Zitadelle, Turm mit Dachterasse und goldenen Kugeln. Der neue Turm zu Babel? Ein Teil des Hundertwasser-Turms ist in den Farben der Vergänglichkeit gehalten um an die vanitas der Natur zu gemahnen. Für den Architekten unterliegen alle Zivilisationsprodukte organischer Gesetzen.
Es braucht mehr Demut auf Erden
Laut Seneca liegt der Nutzen der Philosophie liegt in der Einsicht in das Notwendige, womit er Hegel antizipiert. einzusehen. Sein Stoizismus ist keinesfalls mit Fatalismus oder Determinismus gleichzusetzen, sondern einer Lehre, dass nichts zufällig oder belanglos ist und alles einer höheren Ordnung entspringt, jedes Phänomen seine Gründe hat. Das fatum (Schicksal) ist nicht an persönliche Pläne gebunden; dies geht aus dem 16. seiner moralischen Briefe hervor: „daß uns die Geschicke durch ihr unerbittliches Gesetz fesseln, sei es, daß ein Gott als Gebieter über das Universum alles einteilte, sei es, daß der Zufall die menschlichen Dinge ohne Ordnung antreibt und hin- und hertreibt.“
Für Seneca ist es elementar, dass wir mit unseren Mitmenschen auskommenhinsichtlich dem Beibehalten unserer Mitte, denn wir benötigen immer das Außen als Korrektiv zur Selbstwahrhnehmung. Die ist gemeint, wenn er schreibt: „Wer an den Spiegel tritt, um sich zu ändern, der hat sich bereits geändert.“
Darüber hinaus ist der sensus communis, das Allgemeinwohl, stets höher zu bewerten als das persönliche Behagen. Demut kommt ja nicht von Demütigung, sondern vom Mut, sich einzuordnen, dienstwillig zu sein, Teil eines großen Ganzen zu bilden. Lateinischer Ursprung ist humilitas – das Substantiv, vom lateinischen Adjektiv humilis abgeleitet ist, welches „demütig“, aber auch „geerdet“ oder „von der Erde“ bedeutet. Weshalb findet dies hier Betonung?
Im zweiten Weltkrieg wurde Magdeburg beim Luftangriff 16. Januar1945 sehr stark zerstört, das gilt auch für die Stelle, an der heute die Grüne Zitadelle steht – Anstoß gab die Zeichnung eines achtjährigen Mädchens, wie es sich das ideale Haus vorstellt. Darin gab es keine Ecken und Kanten oder Linien, denn diese kommen in der Natur nicht vor. Das Bild zeigt, dass der Mensch sich mit einer unnatürlichen Hülle umgibt, ja panzert. Obwohl der Architekt Hundertwasser nicht explizit von Demut sprach, kann man argumentieren, dass seine Betonung der Einbeziehung der Natur und der Lebendigkeit in seinen Bauten eine Form von Ehrfurcht vor der Natur und ihren Prozessen widerspiegelt, die eine gewisse Form der Bescheidenheit gegenüber der Natur impliziert.

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Domplatz, Dom. 1524 wurde die Stadt durch Luthers Predigten reformiert, der Dom blieb jedoch (vorerst) katholisch, über 20 Jahre auch geschlossen. Der Dom ist die erste von Anfang an gotisch konzipierte und die am frühesten fertiggestellte Kathedrale der Gotik auf deutschem Boden.
„Wer Glück sucht, darf der Masse nicht folgen“
Seneca ist in seiner Tugendlehre darum bemüht, die Beweggründe unseres Handelns zu verdeutlichen, um über das Prinzip der Selbsterkenntnis gegen die Gewohnheiten zu handeln. Letztere entstehen hauptsächlich durch das unreflektierte Kopieren des Verhaltens anderer. Einer der Grundsätze seiner stoischen Moralpsychologie in „Über die Milde“ lautet daher: „Wer Glück sucht, darf der Masse nicht folgen“.
Wider dem Herdentrieb muss sich der Einzelne eine Meinung bilden.Aus Bequemlichkeit neigt der Mensch dazu, sich keine Meinung zu bilden, sondern sich der Mehrheit anzuschließen. Folglich ist sein Glück abhängig von dem, was er meint, was die meisten Menschen glücklich macht und selten von der inneren Überzeugung. Nietzsches Prinzip Folge dir selbst und nicht den anderen findet sich bei Seneca bereits vorformuliert.
Als gutes Beispiel zur Begründung menschlichen Unglücks gilt seine Abhandlung „Über den Zorn“. Die meisten unrechten Taten geschehen aus dem Affekt heraus, z.B. dem Gefühl erlittenen Unrechts. Der Zorn aber stört empfindlich Gemütsruhe und führt entweder zu Rache oder unterdrückter Wut. In der Fähigkeit des Zorns liegt jedoch auch das Instrument der Heilung: das Nachdenken. Rache und Grausamkeit als auch unterdrückter Schmerz fördern das Unglück und verstoßen gegen die menschliche Würde. Über das Prinzip der Milde hemmt der gekränkte Mensch seine Rachsucht. Noch wichtiger aber ist es, sich gar nicht einer Kränkung auszusetzen und dadurch den Irrtum des Zorns gar nicht entstehen zu lassen.
Als Stoiker betrachtet Seneca in „Von den Pflichten“ das Glück in der Seelenruhe. Glücklich ist, wer weder wünscht noch begehrt was er nicht hat, denn dadurch entsteht Unfrieden. Frieden entsteht durch Übung der eigenen Urteilskraft. Unruhe entsteht, wo die Verbindung von innerem und allmächtigem Weltgeist unterbrochen wird.

Foto Belinda Helmert: Mauersegment der Berliner Mauer, umgestaltet durch Christoph Ackermann: Wir sind das Volk. Steter Specht höhlt den morschen Stamm. Doch wohin will der Volkswille und wenn er will, wird man ihn dann lassen? Die Ablehnung der AfD bis hin zur Absprache ihrer demokratischen Ausrichtung erinnert an die Abgrenzungspolitik der Römer und die Ausgrenzung der Christen, die Nero nach dem selbst gelegten Brand zu Volksschädlingen erklärte und systematisch verfolgen lies. Leider traf sein vernichtendes Urteil auf fruchtbare Sündenbock-Suche im römischen Volk.
„Nur Taten machen Gedanken“
Viel war bislang über Glück und Tugend die Rede, wenig über carpe diem, pflücke oder nutze die Zeit. Sie entspringt dem Buch „De vita brevis est“ Über das kurze leben. Einer der Kerngedanken lautet: nutze den Tag und tue, denn nur Taten machen Gedanken. Auch Gemütsruhe ist eine Handlung, denn um sie zu gewinnen und zu erhalten, muss man viel tun, also tätig werden. Weder stellt sie sich von alleine ein, noch bleibt sie einem von selbst erhalten.
Auch das Loslassen ist eine aktive Handlung und für Seneca durchaus weder mit Gleichgültigkeit noch mit Nihilismus, der Geringschätzung verbunden. Es gibt schmerzhafte Proessse- Seneca schreibt auch über die Trauer – die genau wie Wut bzw. Zorn losgelassen werden müssen, um wieder klar sehend, denkend und handelnd werden zu können. Die Zeit ist kurz und muss daher wertgeschätzt werden als höchstes alle Güter.
Jedes Wissen entsteht durch Beobachtung, also Wahrnehmung. Wahrnehmung aber ist nichts anderes als Beobachtung von Zeit, also muss der Umgang mit der Zeit geübt werden. Auch die Kausalketten beruhen auf richtiges Beobachten und Einordnen der Zeit: was vor vorher, was nachher. Falsche Schlüsse führen nur zu Vorurteilen und diese sind Gift für die Seele, für das richtige Handeln.
Zeit kurz bemessen ist, gilt es, achtsam mit dem Leben umzugehen und die wenig uns verbleibende Zeit zu nutzen. Unser Leben ist ein vertagtes Sterben, ein stets sich verkürzender Aufschub des Unvermeidlichen. Das Umgehen mit Unvermeidlichen ist daher Erkenntnis von Zeit. Ein kurzes Leben zwingt zur Pflicht des Nutzens jeder Stunde. Ein falsch gelebtes Leben dagegen führt zur Verschwendung: „Wir verschwenden unser Leben in dem wir etwas anderes tun, als wir tun sollen.“ (Briefe an Lucilius)

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Grüne Zitadelle, Hundertwasser- Turm zur Seite der NLB Bank. Vision des Architekten, wie alles in 100 Jahren aussehen könnte, da jedes Gebäude dem Verfalls preisgegeben ist. Der Verfall gehört zu uns wie das Grün der Erde anstelle des Betons.
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