Foto Bernd Oei: Loire, welche die Touraine durchfließt. Der Romancier Honoré de Balzac ist in Tours geboren und lebte hier von 1799 bis 1814. Etwa ein Dutzend seiner Werke spielen in dieser Region oder erwähnen sie mehrfach. https://de.wikipedia.org/wiki/Tours#/media/Datei:Loiretal.png

Die Macht der Triebe

Laut Otto Flake, aber auch Stefan Zweig, sah sich Balzac vornehmlich als Wissenschaftler, als Chronist seiner Zeit und Sitten mit einer historographischen Reduktion der Welt. Für ihn fielen Romantik und Realismus definitiv zusammen und bildeten keine Pole bzw. Antinomien. Die exzessive Fantasie blieb ein Relikt und eine Folge seines Eroberungsdrangs und auch der Wirklichkeit. In Balzacs Epoche änderte sich so viel und auf so dramatische Weise, in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht, das die Fiktion (man denke an Jules Vernes Reisen zum Mond und zum Meeresgrund) schnell von den Fakten ein- und überholt wurden.

Balzac war Materialist, weil der Mensch für ihn Rohstoff und die Masse das Material für den individuellen Charakter waren. Er schuf aus ihnen, aus Fakten der Geschichte und dem sozialen Milieu ein Kaleidoskop und einen Mikrokosmos für das Werdende. Die Stände schilderte er realistisch, womit sein Subjektivismus auch ein Objektivismus ist. In den Fokus rückte der Lebenstrieb, der Wille sich durchzusetzen und damit auch Eroberungslust. Der Kampf ums Dasein hatte auch psycholgische Gründe wie bei seinem Vorgänger Stendhal, vor allem aber soziologische im Vorgriff auf Flaubert und Zola.

Auch wenn Nemours nicht zur Touraine gehört, so bildet es ein Beispiel für die Integration der Provinz in das Werk der „Die göttliche Komödie“, die aus 88 Romanen und einigen Erzählungen (Novellen) besteht. Hier setzt die Handlung zwischen 1829 und 37 ein, die ohne Verständnis für den Mesmerismus bzw. Magnetismus kaum verständlich wirkt. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, Ursula, die zudem Qualitäten einer religiösen Märtyrerin mitbringt.

In „Ursule Mirouet“, die 1841 in der Zeitung und 1842 in Buchform erstmals veröffentlicht wurde, finden u.a. der aufstrebende Eugène de Raticnac (erfindet in 26 Werken) Erwähnung, der geizige jüdische Kaufmann Jean Esther van Gosbeck (in 13) und der Maler Joseph Bridau (in 13). Wie es Otto Flake in seinem Essay Balzac 1912 treffend pointiert „Wenn er eine Person und ihre Rolle hatte spielen lassen, stellte er sie lange Zeit bei Seite, bis sie eines Tages ein paar Dutzend Werke später wieder in Aktion trat.“

Der von Swendenburgs Wiederkehr- und Seelentheorie beeinflusste, äußerst mystische Roman handelt über die Waise Ursule, die von ihrem Onkel gefördert, nicht nur eine gute Ausbildung erhält, sondern auch ein Vermögen erbt. Die Zwanzigjährige wird Opfer von Intrigen der gierigen Erben und um alles gebracht, schließlich krank. In Fieberträumen erscheinen ihr Tote, u. a. der Onkel und spenden ihr neue Kraft. Zusammen mit ihrem späteren Ehemann findet sie Glück und Vermögen zurück. Typische Motive von Balzac sind Existenzkampf und materielle Begehrlichkeiten.

Untypisch ist der Okkultismus, der jedoch durch Balzacs eigene Jugend im Konvent der Oratorianer in Vendôme erklärbar wird und der eine Faszination für Ärzte bzw. Krankheiten entwickelte. Anton Bettelheim, ösaterreichischer Literaturwissenschaftler, vergleicht im 12. Kapitel seiner Balzac-Biographie 1925 Balzac mit Sainte Beuve: „Beide sind Jünger der Naturforschung. Nur ist Sainte-Beuve, der in seinen Anfängen Mediziner war, bedächtiger und exakter als Balzac, der sich in seiner Vorliebe für das Okkulte, als Parteigänger von Swedenborg, Mesmer, selbst Saint-Germain und Cagliostro, vielfach Illusionen hingab.“

Ein Zitat, von mir aus dem Französischen übersetzt, lautet: „Diese launenhafte Göttin, die öffentliche Meinung, darunter die Tyrannei, ein Unglück ganz Frankreichs, war dabei sich in unseren Landstrichen breitzumachen, selbst in den entlegensten Winkeln der Provinz.“ Es bezieht sich auf die von Neidern gestreuten Gerüchte, ursule müsse ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem Onkel eingegangen sein und diesen verhext haben, damit sie in den Genuss seines Erbes komme und vergiftet habe sie ihren Oheim natürlich auch.

Foto Bernd Oei: Nemours, Schloss, monument historique aus dem 12. Jh. Die Kleinstadt gehört zur Ile de France, ca. 70 km südöstlich von Paris und ist Schauplatz des Romans „Ursule Mirouet“, der zur Kategorie „Szenen aus der Provinz“ gehört und „Studien der Sitten“ als Untertitel trägt.

Foto Bernd Oei: Nemours liegt an der Loing, einem 143 km langen, linken Nebenfluss der Seine. https://www.fontainebleau-tourisme.com/de/fiche/727357/nemours/

Geschichte als Uhrwerk

Der Geschichtsroman „Sur Cathérine de Medici“, entstanden zwischen 1836 und 1842, jeweils in drei Einzelbänden als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitung, wurde erstmals 1846 in Buchform publiziert. Auch hier ist das Tatsächliche das Triebhafte in einer, wie Flake in seinem Essay über Balzac resümiert, „kausalen Welt, in der soziale Ursache und Wirkung mit diabolischer Präzision arbeigten.“

Die Menschen sind berechenbar, die Abläufe gleichen einem Uhrwerk. Daher sind ihre Handlungen vorhersehbar, wie der Außenseiter und Verbrecherkönig (am Ende wird er Polizeispitzel) Vautrin, in der sich eineutig Fouché spiegelt, beweist. Die Anpassung des Geistes erfolgt über das Milieu; wer die Gesetze des Milieus kennt, kann manipulativ erfolgreich sein. „Die Welt ist kein Kloster“ sagt Balzac in „Verlorene Illusionen“.

Der historische Roman nach Vorbild Walter Scotts ist ein Paradebeispiel für die Überschneidung von Wirklichkeit und Fiktion, von Fakten und Einbildungskraft, um die Vorgänge zu erhellen oder zu begründen. Im dritten Teil findet sich ein Dialog zwischen Cathérine und Robespierre, um den es hauptsächlich geht, in dem die Greueltaten der Grand Terreur durch die Handlungen im chambre ardente legitimiert werden. So erscheint Robespierre als ein Muster der Geschichte, eine Wiederholung kalten grausamen Kalküls der Machtpolitik der Königin und Königinmutter während der Religionskriege gegen die Hugenotten.

Balzacs Einleitung, die auch die Verbindung zwischen Hugenottenverfolgung, Spaltung der Nation und Ende des Ancien Régime durch die blutigste Revolution der Geschichte aufzeigt, ist ungewöhnlich lang und verweist auf seine Intention, Geschichte und ihre Geheimnisse abzubilden. Unter anderem geht es um die Bereitschaft des Martyriums, ohne die kein Bürgerkrieg auszukommen vermag.

Zwei Zitate aus dem dritten Band mit dem Titel Les Deux Rêves (Die zwei Träume), die bereits 1830 entstand lauten: „Die ehrbaren Menschen haben keine andere Devise als die: Mach, was du tun musst, um zu erreichen was du kannst.“ (eigene Übersetzung des Originals) So spricht Robespierre und rechtfertigt die Guillotine. Und aus dem Mund von Katharina di Medici hören wir: Tugendhaft oder verbrecherisch, wie man die Geschehnisse der Heiligen Bartholomäusnacht auch nennen mag, ich nehme diese Last auf mich, denn wenn ich zwischen zwei großen Königreichen warte, gleiche ich dem sichtbaren Esel an einer unsichtbaren Kette.“

Die Bartholomäus geweihte Nacht vom 22. auf den 23. August Saint-Barthélemy zählt zu den größten Massakern der Französischen Geschichte und löste 1572 den ersten von sieben Relgionskriegen aus. Typisch für Balzac ist seine Detailbesessenheit für den Adel und deren Verwandschaften, sowie die Aufteilung der Güter und Schlösser. Untypisch ist der Sprung in eine andere als die eigene Epoche.

Vertueuse ou criminelle, que l’on m’attribue ou non la Saint-Barthélemy, j’en accepte le fardeau ; car alors je resterai entre ces deux grands rois comme l’anneau visible d’une chaîne inconnue

Foto Bernd Oei: Blois, an der Loire (Gesamtlänge 1006 km), deren Verlauf ich 2018 mit dem Rad über 800 km folgte. https://www.radweg-reisen.com/loire-radwegDie Stadt und das Schloss auf einem Steilhang liegen an der rechten Uferseite. Die Historie reicht zurück auf das 10. Jahrhundert.

Foto Bernd Oei: Loire, Blois, Pont Jacques Gabriel. Der Roman Louis Lambert, der zur Kategorie „Philosophische Studien“ gehört, trägt sich in Blois zu. Die nach ihrem Pariser Architekten benannte Steinbogenbrücke von 1724 am Südufer erstreckt sich über 283 m Länge und 15 m Breite.

Politik folgt dem Notwendigen, nicht dem Wunsch

Der zweite Roman, der teilweise in Blois spielt, ist „Louis Lambert“, 1832 geschrieben. Sie deckt die Zeit zwischen 1812 und 24, also dem Ende des ersten Kaiserreiches der Franzosen, der Restrauration der Bourbonen auf dem Thron bis zurInthronisierung Karl X. Es ist zugleich die erste von vielen folgenden Werken, die er auf dem Schloss Saché in der Region Indre et Loire nahe der Touraine schreibt. Immerhin drei Fassungen unter drei verschiedenen Titeln sind verbürgt. Der Roman gehört zu den „Etudes philosophiques“ und bezieht sich wiederum auf Swedenborg, der den kindlichen Autoren stark prägte.

Louis Lambert ist nahezu genauso alt wie Balzac und trifft im Roman auf den Erzähler, hinter dem sich dessen Biografie verbirgt, zumal er später auch die Laufbahn des Schriftstellers einschlägt. Gebürtig stammt Lambert aus Montoire-sur-le-Loir, einem Dorf am großen Fluss. Eingebettet in den Roman ist ein Essay mit dem vielsagenden Titel „Untersuchung der Willenskraft“. Die Handlung sei hier kurz umrissen: Der junge Mann, von der legendären Madame de Stael gefördert, ist auf dem Weg Karriere als Priester zu machen. Er verliebt sich in Pauline, gerät in einen Konflikt mit dem angestrebten Zöllibat, verlobt sich. Einen Tag vor der Hochzeit fällt er ins Koma, wie sich herausstellt leidet er an einem unheilbaren Nervenfieber und stirbt im Alter von 28 Jahren. Pauline entscheidet sich statt seiner für einen religösen Weg und wird die Braut Gottes, geht also ins Kloster.

Der Konflikt zwischen leiblichen und seelischen Trieben bzw. geistiger platonischer Liebe und sexueller Erregung ist zentral und unmissverständlich. Einige, von mir zitierte Sätze aus dem Roman:

„Der Ruhm ist vergöttlichter Egoismus.“ „Die ;Menschen sind starkt genug um soweit aufzusteigen bis zu jenem Punkt, wo sie einen Blick auf die Welt werfen köenn, von da aus können sie nicht mehr auf ihre Füße blicken.“ Dies sind Sätze, die Louis vor seiner fatalen Liebe zu Pauline von sich gibt.

„Die Politik ist eine Wissenschaft ohne festgelegte Prinzipien, ohne mögliche Fixierung. Sie beruht auf den Genius des Augenblick, die ständige Umsetzung der Kraft, die den Notwendigkeiten des Tage folgen muss.“ Dies ist ein Satz, den er Erzähler, also Balzacs Alter Ego, von sich gibt.

Foto Bernd Oei: Château de Blois, Schlafraum des Königs Franz I, unter der die Stadt im 16. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebte. Der König, beeindruckt durch seinen Italienfeldzug, führte die Renaissance (Bilder und Skulpturen Michealngelos, Da Vincis, Raphaels) am Hof ein und holte Da Vinci an seinen Hof.

Foto Bernd Oei: Blois, Altstadt, Fachwerkhäuser. Die Stadt, bis 1589 königliche Residenzstadt, wurde Schauplatz der Calvinistenkriege im 16. Jahrhundert. Aufgrund der für die Ketzer eingerichteten „chambre ardente“ (Gerichtshof) der erzkatholischen Königin(mutter) Cathérine de Medici ein idealer Schauplatz fürden gleichnamigen dreiteiligen Geschichtsroman.

Das Unmögliche wagen

Laut Flake ist Balzac auch ein Histograph des aufkommenden Industriezeitalters, dem er positiv gegen übersteht Er studiert die Menschen, um sich den Gesetzen der Gesellschaft zunächst zu unterwerfen, weil diese Kenntnis notwendig ist, um in sie eindrigen und sie schließlich erobern zu können. so ähnlich sagt es auch der immer wieder auftauchende Mephistoles, Balzacs verlängerter Arm Vautrin, Prototyp des Kriminalromans. Man muss das Unmögliche wagen, um das Mögliche zu erreichen. Zwar stammt der Satz von Hesse, doch er trifft den Kern von Balzacs ambitioniertem Wesen.

In Tours, seiner Quelle, spielt „Le lys dans la vallée“, in dem Balzac deutlich macht, dass es für ihn keinen Zufall gibt. Er ist allein schon durch den Namen der Protagonistin Beatrix angelehnt an Dants Muse Beatrice, wie auch der späte übergeordnete Titel für alle Romane „Göttliche Komödie“ an ihn erinnert. Der elementare Satz des Werkes lautet (von mir übersetzt):

„Der Zufall ist nicht so gewiss wie wir glauben, sondern beruht auf einen Mangel von Unwissen von der Wirklichkeit.“

Lilien sind seit dem Mittelalter das Symbol der Könige. Sie verbinden die drei Tugenden Tapferkeit, Weisheit und Glaube.

Der Roman erscheint 1836 – relativ spät. Die Handlung trägt sich von 1809 bis 23 zu, geschrieben wurde er von 1823 bis 34. Nirgendwo sonst ist der Bezug zum Leben des Autoren größer und klarer erkennbar. Zentral darin steht die Liebe eines jungen Mannes namens Félix zu einer unerreichbaren Frau, die nicht nur verheiratet , sondern auch im Alter seiner Mutter ist.

Neben Tours finden auch Chinon und Amboise Erwähnung, beides nahezu Nachbarorte. Die Geschichte ist leicht zusammengefasst: Félix liebt Madame de Mortsauf, hinter der sich in Wirklichkeit Madame du Berny (1777-36) verbirgt, die seit 22 Jahre älter ist als der noch völlig unbekannte Autor, den sie schrittweise aufbaut, bis er sie zumindest beruflich nicht mehr braucht. Henriette de Mortsauf (übersetzt ohne Tod) verkörpert das Idealbild Balzacs von einer Frau, mütterlich, willensstark und als Frau begehrlich. Allerdings entscheidet sie sich für die Treue und damit das eheliche Martyrium. In wirklichen Leben wird sie doch die Geliebte von Balzac. In der fiktiven Version bekennt sie ihre unterdrückte Passion und bereut sie erst auf dem Sterbebett.

Entscheidende Sätze im Roman, der aus einem langen Brief an die aktuelle Geliebte von Félix besteht, lauten: „Die Liebe kennt wie das leben eine Pubertät, während der sie sich selbst genügt und eine Reife, in der sie sich verwirklichen muss.“ „Das Glück der anderen rührt von der Freude jener, die nicht mehr selbst glücklich sein können.“

Der wohl wichtigste Ratschlag der Madame de Mortsauf an den unsterblich wie unglücklich in sie verliebten Félix (der sich lange aufspart für sie), klingt so: „Seien Sie nicht länger der Knecht von irgend jemand anders, befreien Sie sich von Ihren Ketten.“

Dies gelingt der klugen Frau selbst nicht, da sie eine Sklavin ihrer Moral, der Sorge um den guten Ruf, der Konventionen bleibt. Félix befolgt ihren Rat und lernt Lady Dudly kennen, hinter der sich im wahren Leben Sarah Frances, eine spätere Visconti, verbirgt. Sie ist bis auf ihre betörende Schönheit das genaue Gegenteil von der großen (platonischen) Liebe: verdorben, egoistisch, sexuell hyperaktiv.

Foto Bernd Oei: Flusslandschaft der Touraine kurz vor Tours, der Hauptstadt der Region und Geburtsstadt Balzacs. In der Region münden auch die drei Flüsse Chers, Vienne, Indre in die Loire. Die verbreitetsten Rebsorten sind Gamay und Sauvignon blanc. Auch Descartes stammt aus der Touraine (La Haye).

Foto Bernd Oei: Tours, Kathedrale. Die église de Saint-Gatien in ihrer Gotik ist dem ersten Bischof von Tour, Gatian, geweiht und spielt eine Rolle in Balzacs Erzählung „Der Pfarrer von Tours“. Nicht nur die Türme (70 m) sind hoch, auch die Kirche selbst befindet sich auf einer künstlichenb Erhöhung. Die Bewohner schütteten Erde auf, um das Gebäude vor Hochwasser zu schützen. Mitunter tritt die Loire zehn Meter über den gewöhnlichen Wasserpegel.

Die Gutmütigen sind die Dummen

Bereits 1832 abgeschlossen und auch nur in einer Vision erhältlich ist „Le curé de Tours“, der zu Scènes de la vie privée zählt. Diese schlichte Überschrift fand Balzac jedoch erst elf Jahre später passend. Deutscher Titel der Erzählung lautet folglich getreu „Der Pfarrer von Tours“. Erzählt wird der Niedergang des Abbé Birotteau. 1825 kommt in die Gemeinde, die damals etwa 20 000 Einwohner zählt (heute das siebensfache) Die Erzählung setzt mit dem Ende 1826 ein und rollt, untypisch für Balzac, die Geschehnisse von hinten auf. Hauptmotiv ist die Rachsucht einer Frau, hier die ewige Jungfer Sophie Gamard, die es enttäuscht, dass der neue Mieter ihr nicht zu mehr Ansehen verhilft. Sie intrigiert mit einem anderen Geistlichen und bringt ihn sowohl um die Wohnung als auch um das Inventar darin. Zweites Motiv ist der niederträchtige Ehrgeiz, der Egoismus eins konkurrierenden Vertreters des Klerus.

Der andere Geistliche, Abbé Troubert ist karrieresüchtig und zielstrebig; die Logik, der Balzac anhängt, fordert ihn als Gewinner, wie sie den sanftmütigen (Balzac nennt ihn bonasse) und willenschchwachen Kollegen zum Verlierer stempeln muss. Am Ende zieht er sich in einen Vorort von Tours – Chinon – zurück. Ein treffender Satz aus der Erzählun, der die Naivität des bedauernswerten Pfarrers kennzeichnet, lautet: „Angekommen auf einer Erhebung, die zwischen Tours und den Höhen von Saint Georges liegt, umgeben von Felsen, erschien ihm das Eigentum der Madame Listomère die Offenbarung aller Annehmlichkeiten auf dem Lande und der Freuden des Stadtlebens.“

Es ist jene Frau Listomère, die ihm die Augen öffnen muss, dass Troubert sein Haus und die Witwe das darin enthaltene Mobilar begehren und um es zu bekommen, er weichen muss.

Foto Bernd Oei: Château von Amboise, der Nachbarstadt flussaufwärts20 km östlich von Tours. König Karl VIII. wurde hier geboren. Tours und Amboise finden vierzigfache Erwähnung im Roman „Le lys dans la vallée“, das von René Schickele übersetzt wurde und zur Rubrik Szenen auf dem Lande gehört.

Foto Bernd Oei: Amboise, Schlossturm. Das château, Residenz der Valois-Dynastie, fungierte auch während der Französischen Revolion als Staatsgefängnis

Die bekannteste Geschichte, die sich in Saumur zuträgt, wurde mit „Die Lilie im Tal“ bereits mit Tours geschildert, da sie auch dort angesiedelt bleibt. Eine andere ist die von Eugénie Grandet, der Cousine des aus vielen Romanen bekannten Charles Grandet. Auch dieses Werk, 1834 publiziert, gehört zu den Szenen aus der Provinz, die sich hauptsächlich in Balzacs ursprünglichem Territorium zutragen. Die Handlung trägt sich 1819 bis 27 zu.

Erzählt wird die Geschichte der Erbin eines vom Geiz zerfressenen reichen Händlers, der nicht einmal seinen Neffen nach dem Tod seines Bruders aufnehmen will und ihn nach Indien kolportiert, damit er ihn nicht unterstützen muss. In der kurzen Zeit seines Besuchs hat sich seine Tochter jedoch so in ihn verliebt, das sie ihm heimlich Geld zusteckt und sie sich bis zu seiner Rückkehr aufsparen will. Daher schlägt sie die vom Vater angetragenen Vernunftehen (Geld sucht Geld) aus. Nach dem kurz aufeinander folgenden Tod von Mutter und Vater ist sie 23, vollmündige Erbin eines stattlichen Vermögens. Das Warten zahlt sich nicht aus: Sie muss erfahren, dass der Cousin längst in Paris weilt und sich erneut, wie zuvor sein Vater, verschuldet hat. Sie löst seine Verbindlichkeiten, entsagt der Liebe und heiratet einen ebenso reichen Weinhändler, der in vielem an ihren Vater erinnert. Bald nach der Hochzeit ist sie Witwe, immer noch Jungfrau und verschreibt sich ganz der Benevolenz karitativer Tätigkeiten.

Typisch für Balzac ist die bis zur Karikatur reichende Skizzierung und Dämonisierung des Geizes sowie der allgemeinen Bedeutung des Geldes, dem alle verfallen sind, vor allem die Bewohner Saumurs, die im Wettrennen versuchen, sich die Gunst der ledigen reichenb Tochter zu sichern. Ebenso charakteristisch sind die Motive Bankrott durch Habsucht und die Verstrickung von Geld mit der Politik.

Foto Bernd Oei: Blick auf Schloss von Saumur; rechts der historische weiße Stadtkern. Er liegt am linken Loire-Ufer gegenüber, inzwischen sind beide Gebiete bebaut. Der hier dominanten Reben der Region Anjou sind Chenin Blanc, Chardonnay und Sauvignon blanc. https://www.ot-saumur.fr/de/Kunst-und-Geschichte/St%C3%A4dte-und-D%C3%B6rfer/Saumur/

Foto Bernd Oei: Blick vom Schloss auf die Stadt Saumur. Der Roman „Eugènie de Grandet“, Bestandteil der „Szenen aus dem Provinzleben“ trägt sich zum Großteil hier zu.

Hochadel entmachtet von Großbourgeosie

Hervorstechende Zitate in „Eugénie Grandet“ sind: „Eine Frau, die liebt, muss ihre Gefühle immer verbergen.“

„Die Ironie ist der Boden des Charkaters in der Provinz.“

„Die Seele muss zuerst die Gefühle einer anderen Seele aufnehmen, um sie danach reicher zurückzugeben.“

Balzac schwankt offensichtlich, ob er Eugénie als starken oder schwachen Charakter einstufen soll. Für Letzteres spricht ihr Unglück, das man ihr von außen betrachtet zuschreiben muss, da sie ein freudloses Leben führt, zumal sie die Schwächen und Boshaftigkeitn ihrer Mitmenschen durchschaut und keineswegs naiv ist. Für ihre Stärke gilt, dass sie für sich einen Weg findet, nicht zur Marionette der Männer oder des Geldes zu werden, sondern sich über Muse und Schenkung verwirklicht. Ihre Werte sind nicht deckungsgleich mit der von materiellen Erwägungen besessenen Gesellschaft. Balzac bezeichnet sie schlussendlich als „noble statue“, was sein Urteil in der Schwebe lässt.

Grundsätzlich zeigt der Roman Balzacs Verachtung der Spießer auf, die nur verdeckt und niemals offen operieren. Er spricht von der Obeflächlichkeit (flatterie) der Kleingeister (petits esprits). Exemplarisch der Satz: „Die oberflächlichkeit erzeugt keine großen Seelen, se bleibt die Mitgift kleiner Geister, die sich dadurch noch kleiner machen, dass sie immer die Nähe von Persönlichkeiten suchen, um die sie kreisen können.“ Wie es Flake formuliert: „Seine Urteile fallen apodiktisch und sind unwiderlegbar… Die Stufenfolge, in die sich die Gesellschaft gegliedert hat, macht er sich vollständig zu eigen.“

So erkennt Balzac, dass die Zeit des Hochadels, nach dem das Bürgertum immer strebt, vorbei ist und die Fäden letztlich von der Großbourgeosie, den Insdustriellen und der Finanzwelt gezogen werden. Allerdings erwuchs daraus kein Saint Simon, keine revolutionäre Forderung, vielmehr rückwärts gewndet Nostalgie für den Glanz einer Kulturelite, die es so nicht mehr geben konnte.

Foto Bernd Oei: Blick vom Schloss Saumurs auf die Loire und eine ihrer zahlreichen Inseln. https://de.wikipedia.org/wiki/Loire#/media/Datei:Loire_river_tribs_map.png.

Foto Bernd Oei: Saumur, Pont Cessar, die Alt- und Neustadt verbindet und zudem ein Werder einschließt. Mit 276 m Länge und 12,5 m Breite gehört sie zu den größeren vor der Mündung in den Atlantik. Benannt ist die 1770 fertiggestellte Brücke nach ihrem Pariser Bauingenieur. Im Hintergrund mündet die Thouet als linker Nebenfluss nach 143 km in die Loire. Erst 1480 wurde Anjou Teil des französischen Königreiches.

Rückzugsort Schloss Saché

Nahe Chinon liegt das château Saché. In „Die Lilie im Tal“ findet der Ort auch Erwähnung. Chinon und damit auch das Schloss fielen eine Zeit an England; die gesamte Touraine war davon betroffen. So verebrachte Richard Löwenherz eine Auszeit von seinen Kreuzzügen auf der Burg von Chinon und war auch Gast in Saché. Solche historischen Details faszinierten den Histographen und Aristokraten-Bewunderer (de) Balzac. Soziale Reformen interessierten ihn so wenig wie die Masse. Nicht zufällig stammt Félix, der sich in Madame de Mortsauf verliebt, aus Chinon, sie aus Tours.

Flake spricht von einem Willen zur Macht bei Balzac, vom Dandy, der sich immer mehr verschuldete, trotz allen Erfolgs und der immer mehr sein wollte, um dem Ideal der arsitokratischen Welt, ihrem Glanz, nahezukommen. Dass er auf einem Schloss leben wollte, ist keineswegs nur Anekdote. Er liebte die Einladungen von Georges Sand im benachbarten Nohant, das gleichfalls im Loiretal liegt. Die Affäre und Dreicksbeziehung seiner Kollegin mit Franz Liszt, detr sie für eine Jüngere verlies, inspirierte ihn zu seinem Werk „Béatrix“ (1839).

Dieser Roman schildert Jahre der selbstzerstörerischen Passion (Liebe kann auch Vernarrtheit bestehen) des aus England stammenden Calyste, der Eugène Rastignac bewundert, dem Balzac hier eine Nebenrolle zuspricht. Calyste liebt zunächst die reife Madame Félicité, in der sich einerseits Züge von Madame Berny wiederfinden, anderseits bedingt durch Beruf und verwendetes Synonym auf Sand verwiesen wird.

Alle wichtigen progagonisten entstammen der Noblesse. Drei Frauen prägen die Handlung: die kluge, aber zu spät ihre eigenen Gefühle für Calyste du Guénic entdeckende Félicité des Touches, der daran gelegen ist, die richtige Partie für den jungen Mann zu finden. Dieser ist inzwischen für Béatrix de Rochefide entflammt, eine egozentrische und nur mit den Männern spielende, oberflächliche Frau. Die dritte, Sabine de Granlieu, wird dank der Vermittlung und der Mitgift die aufrecht Calyste liebende Ehefrau. Dieser Verblendete hat jedoch nur Augen für die mit seinen Gefühlen nur spielende Béatrix.

Nachdem sie den Jüngling schon einmal verlassen hat, widerfährt dem inzwischen Ehemann dieses Schicksal ein zweites Mal. Bizarrerweise interessiert sie sich nur einmal für ihn als Mann: als er sie in blinder Wut einen Abhang hinabstößt. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Balzac willensstarken Eroberer, zu denen Calyste nicht zählt, für die erfolgreichen Liebhaber hält. Am Ende bleibt Sabine nur das Martyrium, da sie jemanden liebt, der für ihre innere Schönheit und Reinheit unempfänglich bleibt. Auch Félicité wird im Kloster nicht wirklich glücklich. Calyste gelingt es lediglich, sich von der inzwischen gealterten und verstoßenen Göttin seiner Jugendträume zu lösen und somit zu „entschwärmen“.

Foto Bernd Oei: Lavendel im Schlossgarten von Saumur. Das château liegt auf einem auf einem Felsplateau nahe des Zusammenflusses Thouet/Loire.

Foto Bernd Oei: Schloss Saché südöstlich von Tours, an der Indre (280 km Länge vor ihrer Mündung in die Loire) gelegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand hier ein Balzac Museum, da dieser zahlreiche seiner Werke hier zwischen 1824 und 1837schrieb oder redigierte. Das Schloss befand sich imBesitz eines Freundes des stets sich in Geldnöten befindlichen Autors, der so gerne Schlosseigentümer geworden wäre.

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